Anhand eines jährlich wechselnden Themenschwerpunktes aus dem Bereich der Kunst- und Architekturgeschichte sollen die Studierenden eine wissenschaftliche Arbeit abfassen. Im Rahmen des Seminars werden Ansätze zur methodischen und inhaltlichen Strukturierung der Arbeit vermittelt.
Das Wahlseminar Kunstgeschichte widmet sich im Wintersemester 2021/22 dem Thema:
Bahnhöfe, Flughäfen und Spaceports – Geschichte und Fiktion von Transitarchitektur
Am 9. und 20. Juli dieses Jahres sind mit Richard Branson und Jeff Bezos gleich zwei Milliardäre im Abstand von nur wenigen Tagen medienwirksam in den Weltraum aufgebrochen, um damit erneut Spekulationen und Bemühungen um einen zivilen Weltraumtourismus anzuheizen. Eine Kommerzialisierung von Reisen in den Weltraum erscheint nur konsequent in einer technologischen Fortschrittsgeschichte, in der der Mensch im 19. Jahrhundert zunächst die terrestrischen Landmassen und im 20. Jahrhundert anschließend die Erdatmosphäre durch die Luftfahrt massentouristisch erschlossen hat. Diese Geschichte des Massentourismus ist auf das Engste mit der Technikgeschichte verwoben, mit den Naturwissenschaften, der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte – sie lässt sich aber auch als eine Architekturgeschichte erzählen: Die Transport- und Verkehrsmittel sind ohne jene Bauten nicht zu denken, die sie überhaupt erst zugänglich machen, die Infrastruktur für sämtliche logistische Abläufe vor, während und nach der Reise bereitstellen und als sichtbare Architekturen stets auch Eigenschaften, Zweck und Charakter des Verkehrsmittels repräsentieren.
Im Wahlseminar Kunstgeschichte untersuchen wir im kommenden Wintersemester die Entwicklung und Ausbildung von Architekturen des Reisens und Transports. Unter dem Titel Bahnhöfe, Flughäfen und Spaceports – Geschichte und Fiktion von Transitarchitektur fragen wir danach, welche Anforderungen an die jeweiligen Bauaufgaben bestehen, wie diese erfüllt werden und schließlich, wie Verkehrsbauten auch als Werbeträger für ihr jeweiliges System fungieren. Ausgehend von den konkreten Objekten und Entwürfen betrachten wir den jeweiligen Entstehungskontext und die begleitenden kulturellen Phänomene des Reisens sowie die zugrundeliegenden gestalterischen Ideen und Konzepte. Der Gegenstandsbereich umfasst dabei Architekturen zur Abwicklung des Schienenverkehrs, der Luft- und Raumfahrt vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, bezieht aber auch fiktive Transitarchitekturen etwa aus Filmen und Computerspielen als utopische/dystopische Imaginationsräume mit ein.
Seit jeher stehen Mobilität und Reisen in der Geschichte der Menschheit in einem Spannungsverhältnis zum Bedürfnis des Niederlassens und Sesshaftigkeit. Im Gegensatz zu Bauten für den individuellen Schutz, zum zeitweisen oder dauerhaften Aufenthalt von Nutzer- und Bewohner*innen, kommen bedeutende Bauaufgaben insbesondere der massenhaften Fortbewegung und des Verkehrs jedoch erst mit Beginn der Moderne auf. Erst mit dem technischen Fortschritt des frühen 19. Jahrhunderts und den daraus resultierenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen ist das erste Massenverkehrsmittel Lebensrealität geworden: Die Erfindung der Eisenbahn hat eine zuvor noch undenkbare Beweglichkeit für Menschen und Güter ermöglicht. Reisewege und -zeiten haben sich enorm verkürzt, sodass Städte, Regionen und Länder erschlossen und verbunden werden konnten. Wir werden uns zunächst also der oftmals aufwendigen Bahnhofsarchitektur als Schnittstelle zum System Eisenbahn widmen. Nach bald 200 Jahren seit seiner Erfindung genießt dieses einen weiterhin hohen Stellenwert und große Bedeutung für unsere moderne Gesellschaft – auch als zukunftsweisendes und klimaverträglichstes Verkehrsmittel. Durch technologische Meilensteine wie die Entwicklung des Hochgeschwindigkeitsverkehrs oder die Einführung von Taktfahrplänen ist ein oftmals hochleistungsfähiges, belastbares und dabei für breite Bevölkerungsschichten erschwingliches Transportsystem entstanden, zumeist als Teil einer öffentlichen Daseinsfürsorge. Die sich wandelnde räumliche Situierung von Bahnhöfen, die neuen an sie gestellten Anforderungen und die an die Reisenden gerichteten Angebote lassen sich dabei fortwährend anhand der Bahnhofsarchitekturen nachvollziehen.
Von den ersten Versuchen der Luftfahrpioniere des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum heute alltäglichen Massentransport auf dem Luftweg spannt sich ein weiterer Erzählstrang, der über die ungebremste technische Entwicklung auch einschneidende Auswirkungen von globaler Tragweite hatte. Wie stark die zivile Luftfahrt menschliche Bewegungsmuster und das Verhältnis von der Erreichbarkeit ferner Destinationen und der dazu benötigten Zeit geprägt hat, hat sich vergangenes Jahr in der rasanten weltweiten Verbreitung des Coronavirus besonders eindrücklich gezeigt. Im Kontext der Entwicklung der zivilen Luftfahrt werden wir im Seminar auf die Genese von den frühen Flughafenbauten zu Beginn der kommerziellen Luftfahrt im 20. Jahrhundert bis zu den rezenten ‚hub worlds‘, großangelegten internationalen Flughäfen fokussieren. Gemeinsam werden wir nachvollziehen, wie sich das bis ins Krisenjahr 2020 beständige Wachstumsstreben hin zu mehr Kapazitäten, Angeboten und komplexeren Abläufen architektonisch abgezeichnet hat.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwirklichte sich parallel zur Luftfahrt der lange gehegte Traum von der Reise ins Weltall. Spätestens mit dem erstmaligen Verlassen der Erdatmosphäre und mit dem erklärten Wettlauf zum Mond, hat das menschliche Reisebedürfnis ein neues Ausmaß erreicht, das sich in Meilensteinen wie dem Space Shuttle-Programm oder dem geradezu tagesaktuellen Weltraumtourismus zu erkennen gibt. Mit dem von Virgin Galactic betriebenen Spaceport America in New Mexico ist dieses jüngste Phänomen auch architektonisch am Terminalgebäude nachvollziehbar, wohingegen bei bisherigen Startplätzen für die Raumfahrt, wie am Kennedy Space Center in Florida, dem Weltraumbahnhof des Space Shuttle-Programms vordergründig rein technische Bauten und Infrastruktur prägend waren.
Ein definitiver Endpunkt weder des Massentourismus noch der Transitarchitektur scheint dadurch jedoch nicht in greifbarer Nähe. Denn durch Science-Fiktion-Literatur, Filme oder Computerspiele gehören Einrichtungen und Bauten interstellarer und intergalaktischer Raumfahrt schon heute in teilweise selbstverständlicher Form zu unserem kulturellen Alltag und prägen ganz abweichende Vorstellungen und Narrative von Raumfahrtarchitekturen, denen wir uns zum Abschluss des Seminars annehmen wollen.
Termine
Online-Sitzungen (TUWEL/Zoom), dienstags, ab 14 Uhr s.t.
05.10.2021, 14:00–16:00 Uhr Sitzung 1: Einführung, Kennenlernen, Diskussion
12.10.2021, 14:00–16:00 Uhr Sitzung 2: Vorstellung der Referatsthemen und Themenvergabe
19.10.2021, 14:00–16:00 Uhr Sitzung 3: Einführung in die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens
26.10.2021 Nationalfeiertag (Feiertag): keine Sitzung
02.11.2021 Allerseelen (Feiertag): keine Sitzung
09.11.2021, 14:00–16:00 Uhr Sitzung 4: Lektürediskussion und Referatsvorbesprechung
16.11.2021, 14:00–18:00 Uhr Sitzung 5: Bahnhöfe I
30.11.2021, 14:00–18:00 Uhr Sitzung 6: Bahnhöfe II
14.12.2021, 14:00–18:00 Uhr Sitzung 7: Flughäfen
11.01.2022, 14:00–18:00 Uhr Sitzung 8: Spaceports & Science Fiction
25.01.2022, 14:00–16:00 Uhr Sitzung 9: Abschlusssitzung
Der Zugang zu den Zoom-Einheiten erfolgt über den TUWEL-Kurs:
https://tuwel.tuwien.ac.at/course/view.php?id=42642#section-3